02.03.2012 - Seefeld

Der "Arabische Frühling"?

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»Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Der erste Satz von Leo Tolstois Anna Karenina gilt auch für das Schicksal politischer Systeme: Deren Zerfall – ob schleichend, in Bürgerkrieg oder Revolution – muss daher von Fall zu Fall vor dem jeweiligen historischen Hintergrund analysiert werden. Treffen aber Umstürze oder Aufstände in rascher Folge und mit ähnlichen Forderungen zusammen, so liegt es nahe, eine Verbin­dung zu sehen. Die oft unterschiedlichen Auslöser und Ursachen der Revolutionen und Revolten treten in den Hintergrund, man sucht nach Gemeinsamkeiten und findet prägende Begriffe.
Europäer und Nordamerikaner sprechen seit dem Frühjahr 2011 von der »Arabischen Revolution«. Oder – poetischer formuliert – vom »Arabischen Frühling«. Die Unruhen und Aufstände in Nordafrika und im Nahen Osten werden also in einem Zusammenhang gesehen: Die Nachbarschaft der Zentren der Revolten, eine gemein­same Sprache und Kultur legen eine solche Sicht der Dinge nahe. Jedoch: Die Gründe für die Unruhen sind unterschiedlich, ebenso ihr Verlauf und vermutlich auch das Ergebnis.

Alte Krisen und neue Proteste

Trotzdem gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die zu einer Erklärung der Vielzahl von Revolten und Umstürzen in Nordafrika und im Nahen Osten beiträgt. Die augenfälligsten sind wirtschaftliche und soziale Missstände: Schnell steigende Preise für Grundnah­rungsmittel, eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und eine steigende Arbeitslosigkeit der immer jünger werdenden Bevölkerung. In all diesen Ländern ging die landwirtschaftliche Produktion zurück – die Preise für die zum großen Teil importierten Nahrungs­mittel steigen stetig an. Ein gefährliches Amalgam.
Diese Entwicklungen führen zu einer Perspektivlosigkeit – keine Ausbildung, kaum Arbeitsplätze – vor allem der ju­gendlichen Bevölkerung, die nicht zu Unrecht auch dem politischen System der betroffenen Staaten angelastet wird. Diese Perspektivlosigkeit führte seit dem Frühjahr 2011 zum Ausbruch von Unruhen und Umstürzen.

Die Hintergründe

Die Revolten finden (vorerst) in jenen Staaten statt, die in den 50er oder 60er Jahren unabhängig wurden und die sich seit der Unabhängigkeit oder einem danach alsbald erfolgten Machtwechsel als fortschrittlich, revolutio­när und einem »arabischen Sozialismus« verpflichtet verstanden. Doch die damit verbundenen emanzipa­torischen Hoffnungen wurden im Lauf der Jahre ent­täuscht.
Die ideologische Grundlegung der sich damals als »revolu­tionär« verstehenden arabischen Staaten – vor allem Syrien, Irak, Algerien, Tunesien – schien in der Tat große Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Vorbildcharak­ter hatte Gamal Abdel Nassers Ägypten. Auch damals war »Frühling«. Die 50er und 60er Jahre waren für die jungen Staaten Jahrzehnte der Kursbestimmung und einer innerarabischen Auseinandersetzung. Selbst die konservativen arabischen Monarchien sahen sich mit den Hoffnungen der damaligen Revolutionäre konfrontiert.
Oppositionelle Gruppen und Kritiker der bestehenden Herrschaftsstrukturen in Jordanien, in Marokko, im Je­men und in den Emiraten am Golf fühlten sich seinerzeit von sozialistischen politischen Ideen angezogen. Den Fortschrittsgedanken der »Freien Offiziere« und Sozia­listen hatten die Herrscher in Amman, Riad, Sana’a und am Golf ideologisch wenig entgegenzusetzen. Kommen­tatoren und Beobachter sprachen auch damals schon von einer »Arabischen Revolution« und in deren Gefolge von einem »arabischen Kalten Krieg« zwischen den konservativen Monarchien und den fortschrittlichen, sich zu verschiedenen Spielarten des Sozialismus und/oder des Panarabismus bekennenden Regierungen.

Das politisch-ideologische Amalgam dieser damaligen »Ara­bischen Revolution« erwies sich jedoch als nicht beständig. Sozialistische Vorstellungen gingen alsbald verloren: An deren Stelle traten verschiedene Formen der Mili­tärherrschaft und eine Transformation der formal stets beibehaltenen Staatskonzepte in personalisierte Regie­rungsformen: Der Personenkult ersetzte revolutionäres Gedankengut, schließlich entstanden Herrschaftsstruk­turen, die auf Clan- und Familienstrukturen beruhten (in Tunesien; in Ägypten seit der Festigung der Herrschaft Hosni Mubaraks in der ersten Hälfte der 80er Jahre; un­ter der Herrschaft Hafiz al-Assads in Syrien, Ali Salehs im Jemen und Oberst Muammar al-Gaddafis in Libyen).
Es begann in Tunesien. Die Selbstverbrennung ei­nes jungen Hochschulabsolventen am 17. Dezember 2010 vor einem öffentlichen Gebäude in Sidi Bouzid löste spontane Unruhen aus, steigerte sich zu lan­desweiten Protesten und stürzte schließlich die Re­gierung. Der Anlass zeigt die tieferen Ursachen des Aufstands. Der selbstgewählte Tod war ein letzter Ausweg und ein politisches Fanal: Der 26-jährige Mohamed Bouazizi versuchte seit dem frühen Tod seines Vaters als Gemüsehändler den Lebensunter­halt für sich, seine Mutter und seine fünf Geschwis­ter zu verdienen. Er musste erkennen, dass er keine wirtschaftliche Perspektive für sich und die Seinen hatte. Jedenfalls nicht unter den Bedingungen der gegebenen Ordnung. Seine Entscheidung, den Tod zu suchen, steht am Ende einer langen Geschichte von immer wieder angekündigten besseren Zuständen.

Wege zur Demokratie?

Das Versanden der damaligen »arabischen Revolutionen« ging in der ersten Hälfte der 70er Jahre mit einer zuneh­menden außenpolitischen Stabilität einher. Die etablier­ten Herrscher machten ihren Frieden mit der westlichen Welt und kooperierten mit den USA und den in der Region engagierten europäischen Staaten. In Washing­ton, Paris, London und anderen Hauptstädten herrschte darüber Erleichterung. An eine arabische Demokratie – wie zuvor an einen arabischen Sozialismus – glaubte dort ohnehin niemand. Angesichts der schwelenden regionalen Konflikte – allen voran der israelisch-palästi­nensisch/arabische Konflikt und die iranische Revolution (1979) – betrachtete man die regionale Stabilität als vorrangig. Die arabische Region galt als ungeeignet für eine Demokratie europäischen oder nordamerikanischen Zuschnitts.

Internationale Verknüpfungen

Diese »orientalistische« Konzeption diente letztlich zur Ab­sicherung der Politik der USA und ihrer Verbündeten, einer militärischen, wirtschaftlichen und politischen Koopera­tion mit den arabischen Eliten.
Vor diesem Hintergrund wurden gravierende politische und soziale Fehlentwicklungen in den arabischen Staa­ten ignoriert: beängstigende Rückstände im Bildungs­wesen, eklatante rechtsstaatliche Defizite und nicht zuletzt die Benachteiligung von Frauen.
Im Westen wurden diese Defizite schweigend hingenom­men, oder – schlimmer noch – als der arabischen Welt eigen gesehen. Erst unter dem Druck der Straße, der die politischen Systeme in Tunesien und Ägypten – oder zumindest deren autokratisch herrschende Spitzen – hinwegfegte, änderten die Amerikaner und Europäer ihre Politik: Doch die Wende kam zu spät.
Mittlerweile ist der »Arabische Frühling« 2011 vorbei. Die »Revolutionäre« sind mit ihren hochfliegenden Idealen in den Mühen der Ebene angelangt. Wie die politischen Systeme von Ländern wie Ägypten und Tunesien in Zukunft aussehen werden, ist noch offen. Werden die liberalen Akteure, die mit ihrem Engagement den Weg für die Aufstände und Unruhen bereiteten, eine Chance bekommen, den Neuanfang mitzugestalten?
Werden alte Machtstrukturen (das Militär und die ehe­malige Einheitspartei in Ägypten, die Seilschaften der ehemaligen Herrscherclans in Tunesien) sich letztlich doch behaupten? Oder werden islamistische, konservative Kräfte die Gewinner der »Arabische Revolution« sein?

Ungewisser Neuanfang

Die Vorstellung, dass in den jungen arabischen Demokratien die Islamisten die Macht übernehmen, hat in den vergan­genen Monaten für viele Spekulationen und Unkenrufe gesorgt. Doch die Ergebnisse der Wahlen in Tunesien und Ägypten haben gezeigt, dass die herkömmlichen Szenarien den veränderten Verhältnissen nicht mehr gerecht werden. In Tunesien wurde bei der Wahl zur verfassungge­benden Versammlung am 23. Oktober 2011 die islamistische Bewegung Ennahda zwar stärkste Kraft. Doch insgesamt votierten nur gut ein Drittel der tunesischen Stimmberech­tigten für die religiöse Partei. Zwei Drittel der Wähle­rinnen und Wähler gaben ihre Stimme säkular ausge­richteten Kräften. Das bedeutet, dass die Islamisten in Tunesien der künftigen Verfassung nicht ihren Stempel werden aufdrücken können. Andererseits hat sich in den ersten hundert Tagen nach der Wahl gezeigt, dass die Ennahda-Partei strategisch und auch realpolitisch signifikante Schwächen aufweist. Zum einen hat sie es bislang versäumt, sich klar und unmissverständlich von den gewaltbereiten Salafisten zu distanzieren, die zwar nicht im Parlament sind, die aber durch ihre physischen Attacken gegen Andersdenkende und durch ihre extremistische Propaganda bei der modernistischen (nicht zwingend laizistischen) tunesischen Mittelklasse Ängste erzeugen.  Zum anderen hat die Ennahda-Partei  versäumt, deutliche Signale der Versöhnung und Zusammenarbeit an die modernistische, nicht islamistische Mittelklasse auszusenden, die in Tunesien verhältnismäßig groß ist. Stattdessen griffen Islamisten der Ennahda-Bewegung Büros der Gewerkschaft UGTT an. Die Vertrauensbasis zwischen den liberaldemokratischen und den moderat-islamistischen Kräften, die in der Regierungskoalition repräsentiert sind, ist damit erschüttert und schwer wieder zu kitten.
Während die Entwicklung in Tunesien grosso modo entsprechend den Erwartungen der politischen Beobachter verläuft, hat der Erdrutschsieg der Islamisten in Ägypten (November 2011 bis Januar 2012) bei vielen für Überraschung gesorgt.  Mehr als 45 Prozent der Ägypter und Ägypterinnen votierten für die Muslimbrüder, fast 30 Prozent gaben ihre Stimme den radikalislamischen Salafisten. Welche Auswirkungen die Zusammensetzung des Parlaments auf die Ausgestaltung der neuen ägyptischen Verfassung haben wird, ob die ohnehin starke Stellung des Islams in der Verfassung noch weiter verfestigt wird, lässt sich noch nicht sagen.  Fest steht aber, dass die Armee nach dem Ende des Diktators Mubarak mächtiger ist denn je und dass die Aussichten auf eine echte Demokratisierung stark geschrumpft sind. Der politisch motivierte Schauprozess gegen deutsche, ägyptische und amerikanische Nichtregierungsorganisationen ist ein Beleg für diese Tendenz. Statt das extrem undemokratische ägyptische Vereinsgesetz zu kritisieren und ein Vereinsgesetz zu fordern, das mit modernenen Menschenrechtsstandards vereinbar ist, stimmte ein Großteil der ägyptischen Medien in die Propagandakampagne des Militärs ein. Im  Windschatten der Propagandakampagnen sind die alten Kräfte dabei, sich zu reorganisieren. Die neue Ordnung in Ägypten wird ein Kompromiss sein, das Szenario einer islamistischen Militärdiktatur rückt näher.
Für Syrien sind die Aussichten sehr düster. Eine politische Lösung wird zwar gefordert und immer wieder beschworen, sie ist mit Blick auf den brutalen Charakter des Regimes aber nicht realistisch. Der Aufstand gegen das Regime von Baschar Al Assad ist dabei, zu einem Stellvertreterkrieg auszuarten, bei dem sich letztlich die Regionalmächte Saudi-Arabien/Golfstaaten und der Iran gegenüberstehen. Die EU hat es bislang abgelehnt, die Opposition auf ganzer Linie politisch zu unterstützen, geschweige denn die Opposition mit Waffen zu beliefern.  Angesichts der Risiken, die mit einer solchen Bewaffnung verbunden wären, ist diese politische Position nachvollziehbar. Die Frage ist, wie lange die EU sie noch halten kann, denn inoffiziell sind die arabischen Golfstaaten und damit auch die USA bereits in den Krieg zwischen Regime und Opposition involviert. Syrien stehen sehr wahrscheinlich lange, blutige, bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen bevor.  Ratsam wäre eine stärkere diplomatische Abstimmung zwischen der EU, Russland und den USA – doch dazu fehlt offenbar der Wille.
In Libyen und im Jemen stellt sich die Situation anders dar: Dort gibt es keine politische Ordnung, die reformierbar wäre, sondern der Staat muss von Null neu aufgebaut werden. Die schwelenden Stammeskonflikte dürften den Aufbau staatlicher Institutionen bzw. eine Demokra­tisierung schwierig machen, länger dauernde Bürgerkriege sind nicht auszuschließen. In Libyen ist durch die west­liche Intervention ein weiterer Faktor hinzugekommen. Wie weit Europa (oder die NATO) bereit sein werden, sich beim Wiederaufbau des Landes zu engagieren, ist derzeit nicht absehbar.
Eine dauerhafte Demokratisierung ist in naher Zukunft nur in Tunesien zu erwarten. In den anderen nordafrikanischen Staaten wird sich wohl eine stärker von Militär oder traditionel­len Strukturen (wie dem Königtum in Marokko) be­herrschte Ordnung durchsetzen.

Der »Arabische Frühling« und der Tourismus

Tatsache ist: Anschläge, Unruhen und Revolution behindern den Tourismus, bringen ihn für einen kurzen oder länge­ren Zeitraum auch zum Erliegen. Das gilt nicht nur für die arabische Welt: Amerikaner reisten nach dem 11. September 2001 nicht einmal mehr in ihre bevor­zugten Ferienorte in Mexiko. Die Hotels in Acapulco und Cancún blieben leer.
Tatsache ist aber auch: Der Niedergang des Tourismus hält meist nicht lange an. Sobald die Krise abflaut, ist das alte Niveau an Besu­chern und Übernachtungen meist rasch wieder erreicht. Aktuell lässt sich das an Ägypten belegen, wo die Buchungen von Touristen aus Deutschland nach einem Tief im vergangenen Jahr wieder steigen. Der »Arabische Frühling« hat viele Touristen veranlasst, die von Unruhen und politischen Umwälzungen erschüt­terten Gebiete zu meiden und auf andere Regionen auszuweichen. Wenn das Interesse an Reisen in die Region wieder zunimmt, dürfte das erst in zweiter Linie damit zu tun haben, dass viele Europäer (und Nordamerika­ner) die aktuellen Umwälzungen in der arabischen Welt begrüßen. Anders als bei früheren Konflikten empfinden sie die Aufstände des Jahres 2011 nicht als antiwestlich. Vor allem wird es aber um die Gewährleistung der persönlichen Sicherheit im Urlaub gehen.
Es gibt auch Länder, die sekundär von den aktuellen Konflikten betroffen sind. Ein Beispiel dafür ist Jordanien. Ein beträchtlicher Teil der Jordanienreisenden kam in der Vergangenheit im Rahmen von Rundreisen ins Land, die meist auch Syrien, Libanon, Palästina oder Ägypten einschlossen. Die Abhängigkeit von diesen Kombi-Angeboten hat bewirkt, dass in Jordanien viele Touristen ausblieben, obwohl das Land absolut sicher und ruhig war. Da der Aufstand und die Massaker durch das Regime touristische Reisen nach Syrien auf absehbare Zeit unmöglich machen werden, stehen die Reiseveranstalter und die Tourismuspolitik in Jordanien und in Deutschland vor der Herausforderung, neue Produkte zu entwickeln und die entsprechen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Fakt ist: Das Reisen in der arabischen Welt wird sich in Zukunft anders anfühlen. Die Menschen im Nahen Osten und in Nordafrika werden sich mehr auf nationale und islamische Traditionen beziehen und ihre wirtschaftli­chen und sozialen Probleme durch neue Formen der Partizipation zu lösen versuchen.

Dietmar Herz und Martina Sabra

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